Lagebild Verfassungsschutz 2022
Hybride Bedrohungen und Desinformation – Angriff auf die Funktionsfähigkeit unseres Staates
Bei der Veröffentlichung des „Lagebilds Verfassungsschutz 2022“ hat Innenminister Reinhold Jost über aktuelle Entwicklungen im Bereich der Inneren Sicherheit im Saarland informiert.
Am 24. Februar 2022 hat der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begonnen. In dessen Folge gewinnen auch Hybride Bedrohungen zunehmend an Bedeutung. Dazu gehören neben Cyberangriffen vor allem das gezielte Streuen und Weiterverbreiten von bewusst falschen Informationen, sogenannten Desinformationen. Fremde Staaten versuchen so, Gesellschaften zu destabilisieren und die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Innenminister Reinhold Jost erläutert: „Hybride Bedrohungen und Desinformationskampagnen gefährden die Funktionsfähigkeit des Staates, die eine wesentliche Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in einer offenen, liberalen und demokratischen Gesellschaft ist.“.
Saarländische Bürgerinnen und Bürger werden in Sozialen Medien mit Desinformationskampagnen in bislang unbekanntem Ausmaß konfrontiert.
Ulrich Pohl, Leiter der Abteilung Verfassungsschutz im Ministerium für Inneres, Bauen und Sport, erklärt: „Die saarländische Verfassungsschutzbehörde hat auf diese Entwicklung reagiert und durch den Neuaufbau eines Referats „Spionage- und Cyberabwehr, Proliferationsbekämpfung, Wirtschaftsschutz und Beratungsstelle für Prävention“ einen fachlichen Schwerpunkt auf die Bearbeitung Hybrider Bedrohungen und Desinformation gelegt. Weil es sich dabei um Querschnittsthemen mit unterschiedlichster Zuständigkeit in Bund und Ländern handelt, hat die Verfassungsschutzbehörde des Saarlandes zudem mit potentiell betroffenen saarländischen Behörden und Organisationen Kontakt aufgenommen, ein Netzwerk zum Informationsaustausch gebildet und fungiert hier als Schnittstelle zwischen dem Bund und dem Saarland. Ziel ist es, alle auf Bundes- und Landesebene, einschließlich der Kommunen, erkannten und bewerteten Informationen zu Hybriden Bedrohungen und Desinformation zu bündeln und allen relevanten Behörden und Organisationen im Saarland zur Verfügung zu stellen.“
Desinformationskampagnen frühzeitig zu erkennen und der unkommentierten Verbreitung entgegenzuwirken stellt ein wirksames Mittel in der Bekämpfung Hybrider Bedrohungen dar. Die Verfassungsschutzbehörde des Saarlandes leistet damit einen unverzichtbaren Beitrag zum Erhalt der Funktionsfähigkeit unseres Staates.
„Nur in einem funktionierenden Staat kann unsere Demokratie verteidigt werden! Nur in einem funktionierenden Staat kann Sicherheit in unserer Gesellschaft gewährleistet werden! Und nur in einem funktionierenden Staat kann somit auch eine größtmögliche individuelle Freiheit für jeden Einzelnen erreicht werden!“, so Minister Jost.
Die Ergebnisse des „Lagebilds Verfassungsschutz 2022“ im Detail:
Phänomenbereich Rechtsextremismus
Im Phänomenbereich Rechtsextremismus war Anfang 2022 die Corona-Thematik noch ein bestimmender Faktor. Im Jahresverlauf versuchte die Anhängerschaft politische Schwerpunktthemen wie den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, den Anstieg der Energie- und Lebenshaltungskosten sowie die Inflation, zu besetzen. Dieses Vorhaben war jedoch wenig erfolgreich. Zum Jahresende 2022 lag der Agitationsschwerpunkt der rechtsextremistischen Szene wieder bei klassischen Themen wie „Asyl und Migration“. Dabei gilt das Internet als ein immer wichtiger werdendes Medium für Rechtsextremisten. Die große Reichweite und die Anonymität des Internets potenzieren die Möglichkeiten der Verbreitung von Propaganda, der Rekrutierung, der Mobilisierung und weltweiten Vernetzung sowie der sicheren Kommunikation, was letztlich die Entstehung von virtuellen rechtsextremistischen Parallelwelten fördert.
In der rechtsextremistischen Szene im Saarland war zuletzt ein organisatorischer Wandel feststellbar. Das heterogene rechtsextremistische Parteienspektrum folgte weiterhin einem anhaltenden Abwärtstrend. Der Organisationsgrad sank, vermehrt fand ein Engagement in losen Netzwerken und schnelllebigen (anlassbezogenen) Ad hoc-Kleingruppen statt. Dabei hat sich die Zahl der erkannten und vermuteten Rechtsextremisten im Saarland mit 310 Personen leicht verringert.
Im Jahr 2022 wurde lediglich ein rechtsextremistisches Konzert veranstaltet, das polizeilich aufgelöst wurde.
Reichsbürger
Die Zahl der Reichsbürger erhöhte sich stark von 140 auf 180, ca. 10% davon werden als gewaltorientiert eingestuft. Der bereits im Jahr 2021 festgestellte Anstieg an Aktivitäten setzte sich auch in 2022 fort. Hierbei sind vor allem Widersprüche gegen behördliche Entscheidungen und Maßnahmen oder Schreiben an Behörden, in denen das Existenzrecht der Bundesrepublik Deutschland und die Legitimation der Behörde und ihrer Mitarbeitenden negiert werden, zu nennen. Ein Anstieg derartiger Aktivitäten wurde insbesondere im Zusammenhang mit der Reform der Grundsteuer und dem Zensus in 2022 verzeichnet. Daneben konnte auch ein gestiegener Organisationsgrad der saarländischen „Reichsbürger“ bzw. eine bessere regionale Vernetzung festgestellt werden. Agitationsschwerpunkt waren politische Krisen wie die Corona-Pandemie, der Russland-Ukraine-Krieg, die Steigerung der Energiekosten und die Inflation, welche den Zulauf zur Reichsbürger-Szene verstärkten. Auch in diesem Phänomenbereich gewinnen das Internet und Soziale Medien eine immer größere Bedeutung im Hinblick auf Vernetzung und Verbreitung von Ideologien und Verschwörungserzählungen. Auf Bundesebene ist eine hohe Waffenaffinität erkennbar; in der saarländischen Szene gibt es allerdings nur wenige Waffenerlaubnisse. Im ständigen Austausch mit den Waffenbehörden arbeiten wir daran, dass diese entzogen werden können. In einem Fall kam es nach Durchsuchungsmaßnahmen der Polizei bei einem amtsbekannten Reichsbürger im Saarland zu einem über Soziale Medien verbreiteten Aufruf gegen einen dort eingesetzten Polizeibeamten vorzugehen, der in der Folge auch mit dem Tod bedroht wurde.
Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“
Im Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ werden das staatliche System sowie dessen Regierungsvertretungen unter dem Deckmantel der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit permanent diffamiert und durch Falschbehauptungen und sog. „alternative Fakten“ verächtlich gemacht mit dem Ziel, das Vertrauen in diese zu erschüttern und so die Funktionsfähigkeit des Staates zu beeinträchtigen.
Anfang 2022 richteten sich die Proteste gegen die diskutierte allgemeine und berufsgruppenbezogene Corona-Impfpflicht. Mit dem Wegfall der meisten Corona-Beschränkungsmaßnahmen zum 30.03.2022 und dem von der Bundesregierung verkündeten „Aus“ für die allgemeine Impfpflicht verlor das bislang wichtigste Protestthema „Corona“ politisch und gesellschaftlich an Relevanz. Das verfassungsschutzrelevante Protestgeschehen kam dadurch allerdings nicht zum Erliegen. Vielmehr wurde versucht, das Thema „Krieg in der Ukraine und Waffenlieferungen aus Deutschland“ in den Demonstrationen zu besetzen. Die Resonanz war jedoch gering. Trotz der Besetzung dieser Themen sowie der Einbindung überregionaler Extremisten konnte von den Veranstaltern kein Teilnehmerzuwachs erreicht werden. Die Proteste richten sich nunmehr nicht mehr gegen einzelne staatliche Maßnahmen, sondern das Regierungshandeln im Allgemeinen. Von einer zunehmenden Radikalisierung der Veranstalter von Protestaktionen kann bereits jetzt ausgegangen werden, eine Übertragung auf die Teilnehmenden konnte jedoch noch nicht festgestellt werden.
Beobachtungsbereich Islamismus
Das Personenpotenzial der dem Beobachtungsbereich Islamismus zugeordneten Organisationen, Gruppierungen und Einzelaktivisten im Saarland belief sich im Jahr 2022 unverändert auf insgesamt rund 420 Personen, wobei die Zahl der Salafisten nach wie vor die größte Strömung hierzulande darstellt.
Im Jahr 2022 konnte in Deutschland kein Attentat mit islamistischer Motivation verzeichnet werden. Dennoch besteht für Deutschland bzw. deutsche Interessen im In- und Ausland weiterhin eine anhaltend hohe Gefährdungslage; Terroristische Anschläge sind jederzeit möglich. Die größte Gefahr geht dabei nach wie vor von hoch ideologisierten und jihadistisch indoktrinierten Einzeltätern und Kleinstgruppen aus, die bei der Tatbegehung einfachste Tatmittel verwenden.
Im Jahr 2022 gab es keine Hinweise auf islamistisch-terroristisch motivierte Ausreisen aus dem Saarland nach Syrien/Irak (einziges Bundesland in Deutschland). Im Jahr 2021 konnte eine Ausreise eines deutschen Staatsangehörigen nach Mali/Afrika, um sich dort dem IS anzuschließen, registriert werden. Diese Person wurde im Jahr 2022 bei ihrer Rückkehr nach Deutschland verhaftet und wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gem. § 89a StGB zu zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.
2022 konnten insgesamt zwei Straftaten mit erwiesenem bzw. zu vermutendem islamistischem Hintergrund verzeichnet werden. Im Einzelnen handelte es sich hierbei um ein Strafverfahren nach § 86a StGB („Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen“, hier Posting der IS-Flagge) und ein Verfahren nach § 130 StGB („Volksverhetzung“, hier antisemitische Äußerungen im öffentlichen Raum). Gewalttaten konnten keine verzeichnet werden.
Auslandsbezogene extremistische Gruppierungen
Das Mitglieder- und Mobilisierungspotenzial sowie Strukturen und Erscheinungsbild auslandsbezogen extremistischer Gruppierungen im Saarland ist im Vergleich zum Vorjahr unverändert und weitestgehend konstant geblieben.
Die größte Gruppierung stellt weiterhin die in Deutschland seit dem Jahr 1993 mit einem Betätigungsverbot belegte „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) dar. Themenschwerpunkte der PKK sind das militärische Vorgehen der Türkei in den kurdischen Siedlungsgebieten, das Schicksal des Kurdenführers Abdullah ÖCALAN und das PKK-Verbot in Deutschland. Bislang fanden jedoch keine gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen PKK-Anhängern und nationalistischen/rechtsextremistischen Türken oder tätliche Übergriffe auf Polizeibeamte im Zusammenhang mit den kontinuierlich durchgeführten Protestaktionen statt.
Die türkisch-rechtsextremistische Szene im Saarland („Ülkücü"-Bewegung) trat öffentlichkeitswirksam nicht in Erscheinung. Die Mitglieder traten im Zusammenhang mit ihrer Vereinszugehörigkeit strafrechtlich nicht in Erscheinung. Sie waren nach Aufhebung der behördlichen Beschränkungsmaßnahmen aufgrund der Corona-Pandemie bestrebt, die Vereinsarbeit wiederzubeleben. Dennoch ist das Spannungsverhältnis zwischen türkischen Nationalisten/Rechtsextremisten und PKK-Anhängern mit Blick auf anhaltende türkische Militäroperationen gegen die PKK im Nordirak und Syrien weiterhin hoch einzuschätzen.
Die Zahl der ausländerextremistisch motivierten Straftaten bzw. Gesetzesverletzungen liegt mit drei deutlich unter der Marke des Vorjahres (9). Gewalttaten waren keine zu verzeichnen.
Phänomenbereich Linksextremismus
Im Saarland haben sich Strukturen und Erscheinungsbild des organisierten und gewaltorientierten Linksextremismus im vergangenen Jahr gegenüber 2021 kaum verändert. Das Gesamtmitgliederpotenzial linksextremistischer Organisationen, Gruppierungen und Zusammenschlüsse hat sich verringert. Dem Phänomenbereich Linksextremismus im Saarland sind schätzungsweise noch etwa 300 Personen zuzurechnen. Den Hauptanteil stellt mit ca. 235 Mitgliedern/Anhängern nach wie vor das organisierte linksextremistische Parteienspektrum einschließlich seiner Umfeldorganisationen gegenüber etwa 65 Aktivisten der gewaltorientierten linksextremistischen Szene.
Die politische Bedeutungslosigkeit der orthodox-marxistisch-leninistischen oder maoistisch-stalinistisch ausgerichteten Organisationen, bedingt durch interne Streitigkeiten sowie eine zunehmende Überalterung aufgrund fehlender Neumitglieder und der daraus resultierenden geringen Handlungs- und Mobilisierungsfähigkeit, besteht fort.
Zu den zentralen Aktionsfeldern der gewaltorientierten linksextremistischen Szene im Saarland zählen „Antifaschismus/-rassismus“, „Antirepression“ und die „Kurdistan-Solidarität“.
Die Zahl der Straftaten mit linksextremistischem Hintergrund stagnierte sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht auf einem im bundesweiten Vergleich ohnehin schon sehr niedrigen Niveau. Im Jahr 2022 wurde eine Straftat verübt, seit fünf Jahren war kein Gewaltdelikt zu verzeichnen.
Das aktuelle Lagebild finden Sie unter https://www.saarland.de/mibs/DE/themen-aufgaben/aufgaben/verfassungsschutz/lagebilder/lagebilder_node.html.
Medienansprechpartner
Jörg Hektor
Pressesprecher
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