| Landeszentrale für politische Bildung | Politische Bildung

Prof. Dr. Martin Sabrow: Abschied von der Aufarbeitung? Fragen an die deutsche Erinnerungskultur.

Vortrags- und Diskussionsveranstaltung des Stadtarchivs Saarbrücken in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung am 30. April um 19.00 Uhr

Die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in unserer Generation ist zu einem hohen Gut der nationalen Selbstverständigung geworden, formuliert der Zeithistoriker Martin Sabrow eine Übereinkunft der Erinnerungskultur. Sie besagt, dass die Erinnerung an die NS-Zeit und die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen längst Staatsräson in der Bundesrepublik Deutschland geworden ist.

Denn seit den 1990er Jahren gilt ein parteiübergreifender Konsens des liberaldemokratischen Spektrums, dass die fortdauernde Auseinandersetzung mit der historischen Schuld zweier Diktaturen einen Grundpfeiler des bundesdeutschen Selbstverständnisses bildet. Dazu zählen die offiziellen Gedenkveranstaltungen im Bundestag sowie in den Landtagen anlässlich des Tages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Seit 1996 ist der 27. Januar in der Bundesrepublik ein offizieller Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Dazu zählen ebenso  die vielgestaltigen Initiativen der Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit der Zivilgesellschaft.

Die Forderung  des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1959 an eine gelingende Aufarbeitung besagte, „dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein“. Diese Forderung kann, so Sabrow, daher in der Gegenwart für erfüllt angesehen werden. Die Erinnerung hat über das Vergessen gesiegt, aber dieser Sieg täuscht darüber hinweg, dass das Konzept der Vergangenheitsaufarbeitung selbst in eine Krise geraten ist, stellt Martin Sabrow in einem Vortrag bei einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in Bad Urach am 21./22. März 2018 fest:

„Im selben Maße, in dem der opferzentrierte Aufarbeitungskonsens zum selbstverständlichen Fundament unserer politischen Kultur wurde, hat er begonnen, sein aufrüttelndes Potenzial einzubüßen. Die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit verlangt uns nichts mehr ab, weil sie uns selbst nicht einschließt und weil sie keine Gegner mehr kennt: 93 Prozent aller zu Beginn des Jahres 2018 befragten Deutschen im Altern von 16 bis 92 Jahren halten die Erinnerung an die Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern für wichtigen oder den wichtigsten Inhalt des Geschichtsunterrichts. (...) Unser Geschichtskonsens ist wohlfeil geworden und das Projekt der historischen Aufklärung zur Realität einer historischen Selbstbestätigung, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder reproduziert und ritualisiert.“

Sein Vortrag  am 30. April beleuchtet  daher Aspekte der von ihm vertretenen Feststellung einer Krise der Erinnerungskultur. Zugleich stellt er die Frage, ob die Zeit der Aufarbeitung als abgeschlossene Epoche zu betrachten ist.

Davon ausgehend bietet die an den Vortrag angeschlossene Aussprache Gelegenheit danach nachzufragen, wie Erinnerungskultur jenseits einer Ritualisierung und Selbstbestätigung beschaffen sein sollte, und welche Bedeutung dabei dem Verhältnis von Gedenkstättenarbeit und Forschung zukommt.

Martin Sabrow, Jahrgang 1954, ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Zuletzt war Martin Sabrow im Jahr 2016 in Saarbrücken zu Gast, um sein damals erschienenes Buch „Erich Honecker. Das Leben davor. 1912-1945“ vorzustellen.

Termin: Donnerstag, 30. April 2020 um 19.00 Uhr, Stadtarchiv Deutschherrnstraße 1 , 66117 Saarbrücken